Katalogtext von Gerhard Blechinger, in: animus versus ratio

Text von Franz Billmayer
       
  Gerhard Blechinger

Animus versus Ratio

Als reisende Gelehrte ihre Symposien noch auf Dorfplätzen abhielten, war es nicht selten, daß sie einen erheblichen Teil der Bevölkerung um sich versammelten. Eines Tages jedenfalls sprach ein Mann vor seinem Publikum zur Frage der richtigen Ernährung. Daß ein vernünftger, gar ein gottgefälliger Mensch kaum daran dächte, totes Vieh zu essen war da zu hören und, daß der Genuß von Fleisch schlechthin die Ursache zahlreicher Übel sei. Vielerlei Leiden zählte er auf, die auf den Verzehr von Fleisch zurückzuführen seien. So sei unter anderem vor allem zu denken an Verdauungsprobleme, jene alltäglichste Geisel der Menschheit und unfehlbar ein Zeichen falscher Ernährung. Doch als er seine Rede vor der beeindruckten Menge mit einem weiteren eindringlichen Appell beschließen wollte, zukünftig nurmehr auf pflanzliche Nahrung zurückzugreifen, erhob zur Verwunderung aller ein Zuhörer die Stimme und widersprach. Zwar habe der Gelehrte all jenen, die unter einem der verschiedenen Übel litten, geraten, auf Fleisch zu verzichten. Was jedoch könne dem Fragesteller geraten werden, der - als überzeugter Fleischkonsument - sich dennoch der besten Gesundheit erfreue und insbesondere von Verdauungsproblemen bislang ganz und gar verschont geblieben sei. Die Menge schwieg betreten und der Gelehrte überlegte eine kurze Weile. Danach sagte er: "Wenn es also tatsächlich der Fail ist, daß du Fleisch ißt und damit keine Probleme hast, so rate ich dir, auch in Zukunft Fleisch zu essen!" Darauf brach er in schallendes Gelächter aus, das so ansteckend war, daß die Zuhörer mitgrissen wurden und der ganze Donfplatz stimmte ein in dieses Gelächter. Am Ende wußte keiner mehr ganz genau, wer eigentlich zu lachen angefangen hatte. Doch das war gleichgültig geworden, weil man sich der Stimmung ohnedies einfach nicht entziehen konnte. Am nächsten Tag ging der Gelehrte wieder seines Weges und in gewisser Weise hatte jeder im Dorf die für sich richtige Lehre empfangen. Im Übrigen erzählt man sich, daß kein einziger Bewohner des Dorfes an jenem Tag unter Verdauungsproblemen gelitten habe.

Im ersten Teil der Annekdote begegnet man einer in jeder Hinsicht konventionellen Kommunikationssituation. Je unterschiedliche Prädisponierungen der Teilnehmer bilden dabei die Voraussetzung für die Eindimensionalität des Austauschs. Die Legitimation dessen liegt begründet in der Kultivierung der logik-zentrierten Ratio zum dominanten Paradigma eines Denkens, das den Redner als Wissenden dem Publikum erhaben sein läßt. Durch diese Form von Selbstzucht erst wird es ihm möglich, ein logozentrisches Strategem, hier der vegetarischen Lebensführung, als heilenden Entwurf zu propagieren. War diese Form der Rationalisierung von Lebenszusammenhängen niemals frei vom Ruch der "Zurichtung" des, wenn auch niemals ursprünglichen Selbst, um ideologische Überformung handelt es sich gleichwohl nicht im Falle dieser Informierung. Denn bis vor kurzem noch konnten diesbezügliche Bemühungen gelten als Rekonstruktion des Menschen als eigentlich vernünftige Existenz. Sie ließ sich begründen aus seiner Eigenschaft als Teil des anschaulich logisch-kausal rationalisierbaren Kosmos. Demgegenüber verläßt das Volk sich vornehmlich auf seine Triebe, die jenem Eigentlichen des Menschen, seiner Verwirklichung als geistige Existenz entgegensteht. Abseits irgend vernünftiger Konzeptionen der Lebensführung ist das Leiden am Defizitären einer tierhaften Existenz deshalb ersterer Logik nach nur folgerichtig. Die Stigmatisierung des gar niedrigen Instinktes ist auch in diesem Zusammenhang zu denken. Ob sie, nebenbei, zuerst dem wohligen Schauer am warmen Korper entspringt angesichts der Kälte des Gedankens? Innerhalb dieses bekannten Themas ereignet sich in unserer Geschichte eine überraschende Wendung. Die Definition des Menschen als wesenhaft konzeptualisierbar sieht sich konfrontiert mit einer forciert auftretenden Position, die sich als ebensowenig hintegehbare Formulierung eines Selbst- und damit Weltverhältnisses, das heißt, als alternative Rationalität zu erkennen gibt. Nicht nur in Anrechnung eines allgemeinen Verlusts metaphysischer Endzwecke muß nämlich jede der selbst, wie in unserem Fall, inkommensurablen Rationalitäten abzielen auf die gleiche Teleologie des Sinns als Streben nach einer sich ermöglichenden und wohlbefindenden Lebensfohrung. Noch jenseitsbezogene Strategien bleiben Selbstsorge, freilich mit dem Unterschied, daß sie auf komplexere Konstellationen hin sich orientieren. Deshalb ist der Umstand, daß unser Zwischenrufer Bezug nimmt auf die Kategorie der leiblichen Unmittelbarkeit, die aller Konzeptualität diametral entgegensteht, nicht Grund für sein theoretisches Scheitern, wie uns noch heute intradisziplinäre Bemühungen zur Selbstverteidigung glauben machen wollen. Es ist im Gegenteil überhaupt erst die conditio sine qua non für Wirksamkeit. Letzere bemißt sich gerade nicht nach der Prominenz des Standorts in einer "bibliotheque imaginaire" sondern, jenseits repressiver Unmittelbarkeit, doch eher nach der Funktionstüchtigkeit der eigenen Gedärme wenn es derzeit auch angemessener sein mag, dies mit einer der ökologischen Eschatologie entnommenen Methapher zu umschreiben. Die Pointe der kleinen Ceschichte ist der Umgang mit der Kollision zweier Rationalitätsformen, die wir in diesem Zusammenhang als die diskursive respektive die mimetische Erkenntnis identifizieren wollen. Und damit sind wir, wenn nicht beim Titel angelagt, so doch ausdrücklich beim Thema. Anders als in utopischen Entwürfen von einer befreiten und zwanglosen Kommunikation, hören wir nichts von erfülltem Konsens. Der Konflikt, der sich unweigerlich anbaht, löst sich jedoch genausowenig auf in ein gleichgültiges Schulterzucken. Im Gegenteil: der Gelehrte vertritt nach dem Einwand des Mannes aus dem Volk nun mit gleicher Autorität das Gegenteil von dem, was er noch vor einem Augenblick vertreten hatte. Er wagt es, seinem Selbst- und Weltverhältnis, als Formuliertem, das Verharren in der Aporie zu konstatieren, indem er die Farcen der Identitätsgerüste in ihrer Variabilität einerseits inszeniert, andererseits sie dadurch in ihrer Not zur individualitätsbezogenen Konstanz nur umso eindrücklicher ins Bewußtsein bringt. Die piötzliche Loslösung von einer Strategie der Rationalität und damit untrennbar von einer Strategie der Selbstdefinition erzeugt, wenn nicht Agression, so in seltenen Gelegenheiten ein philosophisches Niemandsland, in dem erst sich einlösen laßt, was sowohl ratio zentrierte als auch im Sentiment dümpelnde Projekte zur Welt und Selbstbemächtigung durchaus erzwingen wollten.

Doris M. Würgerts Arbeiten zu "Animus versus Ratio" sind auf den ersten Blick bestimmt von großformatigen monochromen Portraits in der alten Technik des Gummidrucks. Sie scheinen auf in äußerster Zartheit, sind gleichsam nur Impression, Gedanken an jene leibliche Präsenz. Der sinnlichen Delikatesse der Darstellung gelingt es sogar, dem Wiedererkennen der berühmten Köpfe von Diego Velasquez Widerstrebendes beizulegen. Identifiziert man die Vorbilder, so gerät man beinahe nochmals ins Zweifeln, ob es sich tatsächlich um das Selbe handelt, wenn man denn schon offenbar nicht vor dem Gleichen sich befindet. Denn ungleich stärker als die Zitation des Älteren ist die ganz und gar erotische Ausstrahlung der Portraits, die die bildungsbürgerliche Fertigkeit des Wiedererkennens von bereits Gewußtem ein wenig sabotiert. Mit Einschränkungen dem gegenüber vergleichbar funktionieren die verschiedenen Zeichen für Diskursivität, die jedem Portrait beigegeben sind. Zwar sind sie im weiteren Sinne als der Gattung der schriftlichen Zeichen zugehörig ohne weiteres erkennbar. Der Sinn der Texte ist jedoch nicht ohne weiteres zu entschlüsseln, was das Ornamentale dieser obskuren Schrift sich ins Leere überschlagen läßt. In beiden genannten Strategien von Kommunikation findet sich also ein retardierendes Moment bezüglich des Akts der Identifikation: zum einen die Unsicherheit, ob das verhaltene Pastell die bekannten Gesichter des Spaniers uns tatsächlich wiedererkennen läßt, zum anderen die Unlesbarkeit, die uns widerum in aller Deutlichkeit vor Augen steht. In beiden Fallen handelt es sich im Medium des Bildnerischen um einen Abstraktionsvorgang, der das Augenmerk auf's Prinzipielle lenkt und das unein holbar Divergierende der beiden Formen von Rationalität formuliert. Mit Theodor Adorno: "Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafor hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables." Und doch bezieht sich die diesbezoglich klassische Fragestellung auf das Verhaltnis und die Möglichkeit des Miteinander. Um nicht von den ikonoklastischen Tendenzen in der Theorie zu sprechen: Adorno geht mit seiner Anerkennung der mimetischen Erkenntnis weiter als viele anderen. Dennoch glaubt er noch an die befreiende Macht einer Überwindung des Gegensatzes im Medium der Philosophie und sichert so der diskursiven Strategie letztlich doch noch das Primat. Noch demgegenober steht die Monopolisierung mimetischer Erkenntnis auf seiten der Kunst etwa mit Barnett Newmans Diktum, wonach Theorie for Künstler so bedeutsam sei, wie die Disziplin der Ornithologie für Vögel. Doris Würgerts Arbeiten hingegen geben hierauf eine Antwort, die zunächst recht lapidar erscheint. Schriftlichkeit und Bildlichkeit als Begriffe für Ratiozentrismus und Unmittelbarkeit sind einander schlicht konfrontiert, ohne daB eine Vermittlung beider angedeutet wäre. Begegnet uns im bloßen Zeigegestus der altbekannte, und sogar zynische Relativismus? Beschreiten wir noch einen Umweg. Der anhand der Arbeiten konstatierbaren Inkommensurabilität von Diskursivitat und Mimesis in den ausgeführten Arbeiten entgegen steht das Motto, das der Titel vorgibt. Daß nämlich der Geist gegen das philosophische System sich wenden muß, scheint durchaus zu unterstellen, daß zwei Rationalitätsformen zueinander ins Verhältnis treten. Darüber hinaus ist der Status dieser Disparatheit insofern variiert, als auf die längst zum Topos geronnene Zuordnung geschlechtlicher Eigenschaften angespielt, sie aber bezeichnenderweise gleichzeitig unterlauten wird Mit "animus" ist dem "Phallogozentrismus" (Derrida) nicht, etwa als "sensus", widerum neuromantisch das diffus weibliche Sentiment konfrontiert. Die Verhältnisse sind sozusagen auf den Kopf gestellt: das lateinische "animus" ist maskulinum, "ratio" hingegen weiblichen geschlechts. Dennoch ist dieses Detail eher reizvolle Travestie als jene blutleere Androgynität der meist gequälten Bezwingung von in jedem Sinn höchst produktiven Gegensätzen. Von der vermuteten Vermittlung des Divergenten im Titel bleibt also kaum etwas. Die Schwierigkeit, animus mit dem Begriff der Mimesis zu übersetzen, sowie auch ratio mit Diskursivität zeigt die verschiedenen Ebenen, auf denen Titel und die ausgeführten Arbeiten sich befinden. Angesichts des ungelösten Widerstreits ist erst im Akt der Rezeption selbst und also im Betrachter der Ort gefunden, in dem ein, wenn auch notwendig paradoxes Miteinander der nicht aufeinander rückführbaren Rationalitaten sogar unausweichlich wird.

Angesichts der angestrengten Konkurrenz der Selbst- und Weltentwürfe präsentiert uns Doris M. Würgert das archetypische Gegensatzpaar in seiner unversöhnten Gleichberechtigung. Dieses Bruchs gewahr zu werden ist vielleicht die Pointe, die uns in die Nähe jenes philosophischen Lachens bringen konnte. Erst das Vermögen, das uneinholbar Divergente als gegeben anzunehmen, ohne daraus die zynische Konsequenz zu ziehen, ließe Geist einkehren in unser Wirklichkeitsgebäude.

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