Katalogtext von Heike Ander, in: level x
       
  Heike Ander

level x

Von den Wänden sehen uns Gestalten entgegen, doch ihr Blick sucht kein Gegenüber. Diese Wesen sind noch in ihrer eigenen Welt – oder schon in unserer? –, von der sie uns einen Widerschein zeigen, wie ein "Afterimage", ein Nachbild auf der Netzhaut. Die unmittelbare Einwirkung des optischen Reizes ist beendet und dennoch dauert die Gesichtswahrnehmung fort. Woher wissen wir von der tatsächlichen Anwesenheit einer Sache, folgt man nicht dem klassischen Modell, das die Information bereits im Licht enthalten sieht.

Doris Maximiliane Würgerts Arbeiten aus der Serie level x zeigen Aufnahmen von Räumen, Figuren im Raum sowie überlebensgroße "Schnappschuß"-Portraits. Der Grund, auf dem diese erscheinen, ist jedoch nicht das Photopapier, sondern die Leinwand. Das monochrome Abbild entsteht mittels Gummidruck, einer Technik aus den Anfängen der Photographie. Das beigemischte Pigment bewirkt die farbliche Wiedergabe auf der lichtempfindlichen Leinwand. Es wird durch den Belichtungsvorgang auf der Leinwand fixiert, die unbelichteten Reste werden ausgewaschen und das Bild erscheint. Die Belichtung auf der zuvor präparierten Leinwand "brennt" diese photographischen Abdrucke also buchstäblich in die strukturierte, offene Oberfläche ein – wie in Wachstafeln, den Gedankenbildern, die der antiken Gedächtniskunst als Träger zur Abspeicherung von Wissen dienten. Und Würgerts Arbeiten sind in der Tat wie die "imagines" einer Mnemotechnik, die zur Erinnerung an bestimmten, gedanklichen Orten, den "loci", in systematischer Ordnung abgespeichert werden, so daß diese jederzeit abrufbar sind. Ihre Arbeiten stellen dabei in Frage, inwieweit diese Erinnerungsbilder tatsächlich unsere "eigenen" sind oder nicht viel eher einem medial geprägten Bildarchiv entstammen.

Die Figuren auf diesen Bildern sind im wahrsten Sinne kein physisches Gegenüber, ohne Referenz auf etwas außerhalb ihrer medialen Gestalt befindliches. Meist halten sie sich im Hintergrund auf, sie kehren uns den Rücken zu oder verbleiben in der Dreiviertelansicht. Unser Verhältnis zu ihnen ist zwiespältig: Die Perspektive, aus der wir den Blick auf sie richten, ist einer Überwachungskamera ähnlich, was zusätzlich von den extremen Lichtverhältnissen unterstützt wird: ein Lichtkegel fokussiert nur einen beschränkten Teil des Raums, ein Teil bleibt – mal mehr mal weniger – im Dunkel. Auf diese Weise werden wir einerseits zu Voyeuren ihres Tuns, andererseits jedoch eröffnen uns gerade diese Gestalten auch die Möglichkeit, uns von ihnen in das Bild hineinziehen zu lassen und mit ihnen auch abseitige Bereiche zu erschließen. Die Räume erscheinen als außerhalb unserer Realität angesiedelt, sind aber dennoch verknüpft über ein mentales Bild, wie ein Fenster in einen Parallelraum – oder ist es nicht doch eher ein halbblinder Spiegel, der ein Bild zurückwirft? Zweifel zieht uns in einer unwillkürlichen Bewegung näher und so müssen wir feststellen, daß gerade das physische Herantreten den Blick verwirrt, denn im Gegensatz zu unserer Erfahrung aus dem Alltag (und vor allem aus der Photographie), daß Nähe mit einer detailreicheren und präziseren Sicht verbunden ist, geschieht hier das Gegenteil und alles verliert sich. Erst und nur die Distanz läßt uns überhaupt ein Bild wahrnehmen. Unser Blick versucht den Raum zu erobern, den diese Wesen bewohnen und der nur ihnen vertraut ist. Ort- und zeitlos, geographisch und zeitlich entrückt, erscheinen die Räume wie Kompositlandschaften, zusammengesetzt aus einem Bildfundus, und erinnern an die ästhetisch klar gegliederten und durch reduzierte Formen geprägten, verfremdeten Räume in anderen Arbeiten von Doris Maximiliane Würgert. Ihren – potentiellen – Bewohnern werden keine sozialen Fähigkeiten abverlangt, es sind vielmehr Durchgangsräume, Katalysatoren. Lassen wir uns auf die Perspektive der Videostills – denn Videospiele bilden das Bildarchiv, aus dem Würgert in ihren neuen Arbeiten schöpft – ein, so werden wir in diesen bühnenhaften Räumen automatisch zu Mitspielern der virtuellen, zwischen Mensch und Maschine angesiedelten, idealtypisch anmutenden Kunstwesen, den menschgewordenen Göttern, den "Avataren".

Setzte Doris Maximiliane Würgert 1992 in den Arbeiten zu animus versus ratio die innere Eingebung, die Vorahnung, die sich bestätigt, mit der Vernunft, dem Verstand in eine Wechselbeziehung, haben sich diese aufeinander bezogenen Pole nun verwandelt in das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, die Rückkopplung von Virtuellem und Realem. So wie die Gestalten uns fragen lassen, ob sie Abbilder von wirklichen Menschen sind oder nur so scheinen, so läßt uns hier das "Gemälde" fragen, ob es nicht eher eine Photographie ist – oder umgekehrt. Während Würgert in anderen Arbeiten photographische Aufnahmen der sogenannten Wirklichkeit (reale Menschen, reale Räume) im Computer bearbeitet, wählt sie nun von Beginn an virtuelle Räume und Gestalten. Die malerische und/oder computergestützte Überarbeitung entfällt, die Leinwand wird zum Bildschirm, zur Projektionsfläche, und dies ganz wortwörtlich. Dort, wo uns in der Regel die Photographie längst nicht mehr in der Gewißheit beläßt, eine "objektive" Realität abzubilden, verweigern auch Leinwand und Pigment die Sicherheit, Kennzeichen klassischer Malerei zu sein, verknüpft mit der ihr angestammten materialhaften Aura und dem Anspruch mimetischen Abbildens. Doris Maximiliane Würgerts Bilder entziehen sich damit direkt unserer Idee vom Auge als Kamera und lassen erkennen, daß unser Gehirn keineswegs ein so einfaches Aufzeichnungssystem ist wie der photographische Film zu sein scheint. Schließlich lernen wir erst, die Welt so zu sehen, wie wir sie begreifen und so zu begreifen, wie wir sie sehen.

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