Katalogbeitrag von Maximilian Burkhart, in: vor augen stellen
       
  Maximilian Giuseppe Burkhart

Vor Augen Stellen - Im Angesicht der Kunst

"Da ist keine Stelle, | die dich nicht sieht” heißt es in Rilkes vermutlich bekanntestem Ding-Gedicht Archaïscher Torso Apollos (1908) - das Kunstwerk sieht mich! Und es scheint nicht jener müde Blick des Panthers zu sein, dessen Pupille sich aufschiebt, ganz mechanisch, wie die Linse eines Fotoapparates, um ein Bild einzulassen, das "hört im Herzen auf zu sein”. Das Kunstwerk, die Statue sieht und beherrscht mich, sie gebietet mir: "Du mußt dein Leben ändern.” Rilkes Poetik des Neuen Sehens, die dem Kunstwerk eine höhere Wirklichkeit zuschreibt als der Natur, bedeutet realiter eine unerhörte, paradoxe Umkehrung der Beobachterposition, ein - wie Niklas Luhmann sagen würde - produktives crossing. Aber nicht nur das Kunstwerk sieht mich an, nein, auch das Spiegelbild verselbständigt sich, wie Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schreibt:

Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah mühsam durch die Maske durch, wie meine Hände arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war für ihn gekommen. Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche, monströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen, schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.

Der Abguß und das Abbild, der Signifikant und das Simulakrum führen ein Eigenleben, sie scheinen sich für ihre Bedeutung nicht mehr zu interessieren. Die Philosophie blickt unverwandt in das Auge des Sturms: Das Sinnliche dominiert das Intelligible, schreibt ihm vor, macht ihm Angst, destruiert seine Integrität wie Identität. Was Rilke nur auf sehr drastische Weise vor Augen stellt, ist die skandalöse Funktion der Mimesis: Kunst wird zum revenant dessen, was sie abzubilden vorgibt. Seit Platon hatte die Philosophie, wie Sarah Kofmann in der Melancholie der Kunst anmerkt, Perseus’ Schutzschild der Reflexion verwendet, um sich vor dem bösen Blick der Gorgo Kunst zu verbergen:

Um gerade dieser schrecklichen Faszination zu entgehen, die das Verschieben des Wirklichen und aller Kategorien hervorruft, wovon die Identität sich entstellt fühlt […], um dieser Panik zu entgehen, gibt es philosophische Spekulation, eine unendliche Spekulation, zum Zwecke der Beherrschung: Perseus konnte über Medusa nur triumphieren, indem er sie ihr eigenes faszinierendes Anlitz im Spiegel betrachten ließ; die philosophische Spekulation ist ein solcher Spiegel zum Einfangen der allzu verstörenden, allzu unerträglichen Bilder. Ohne diese Spekulation gäbe es für den Philosophen und für die Philosophie das Risiko des Todes und des Wahnsinns. […] Darum ist die Schönheit niemals frei von Melancholie: Sie trägt gleichsam Trauer um die Philosophie. Bei der Kunst geht es nicht um eine einfache Arbeit des Negativen, sondern um die von keiner überwindenden Dialektik aufhebbare Trauerarbeit. (S. 19f.)

Die philosophische Spekulation ist also das probate Mittel, Gegengift oder Pharmakon, um der Droge Kunst Herr zu werden. Die gute, die philosophische Reflexion hält sich an das Gedächtnis, das die Bilder des Bewußtseins lebendig hält, ihnen den Atem der Präsenz verleiht. Ganz anders, so Platon im Phaidros, die Schrift: Sie "wird Vergessenheit schaffen in den Seelen […], da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen.” (Sämtliche Dialoge, II, LIX, 275) Das Gift des Zeichens wirkt langsam und tückisch, es raubt der Seele die Erinnerung und, schlimmer noch, es führt zu Selbstvergessenheit. Das tote Zeichen, egal ob Schrift oder Bild, kann niemals den lebendigen Körper ersetzen. Die Verführung des Dämons und die tödliche Wirkung des Simulakrums besteht darin, daß es nicht nur für etwas anderes steht, sondern dieses auch noch versinnlicht, vor Augen stellt: "Denn das ist wohl das Bedenkliche beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren sie in gar würdevollem Schweigen.” (II, LX, 275) Und dieses Schweigen, so lehrt uns Freud in seiner Kästchenwahl, ist immer die Drohung des Todes. Es ist die Auseinandersetzung mit der Rhetorik als erlernbarer Disziplin der Gerichtsrede wie aber auch, später, der Dichtung allgemein und das heißt der Kunst der Verführung, Täuschung und Lüge, die Platon zu diesem Verdikt gegen die berauschende, die Einbildungskraft beflügelnde Macht der Metaphern und Bilder veranlasst.

Konsequent hat denn auch Quintilian, der große Lehrer der Überredungskunst, dem rhetorischen Konzept der evidentia, also der Anschaulichkeit, große Bedeutung beigemessen. Die kunstvolle Trope verbirgt die Absenz des Referenten - eine Absenz, die den Tod bedeutet - und gaukelt vielmehr ihre sinnliche Präsenz vor. Für Quintilian ist die evidentia als Veranschaulichung rhetorischer Schmuck, ornatus, der auch noch - höchst selbstreflexiv - die eigene Leistung ganz "unverschämt” zur Schau stellt. Die Macht der Rede als Überwältigung findet erst dort ihre Vollendung, wo der Hörer als Richter vergißt, daß man ihm nur erzählt. Der Fluß der Rede muß ihn vielmehr mitreißen, berauschen, bis er meint, das Sinnliche vor dem geistigen (intelligiblen) Auge wahrhaft zu sehen. Es war Nietzsche, der die Konsequenz dieser auf rhetorischer Substitution beruhenden Kommunikation für das Bewußsein beschrieb. Ihm ist der "Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) […] tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit”, der "selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion” (KSA, XIII, 17 [3], S. 522) ist. Die Idee, das Wahre, Gute und Schöne erkennen zu können, ist ihm lediglich eine ästhetische Fiktion und Effekt einer Selbstüberredung, die die rhetorische Verfaßtheit des Bewußtseins zu kaschieren versucht: "Wir haben Lüge nöthig, […] um zu leben… […] Die Lüge ist die Macht…” (XIII, 11 [415], S. 193f.) Der Wille zur Macht entbirgt sich als Wille zur Kunst. Die evidentia als rhetorische Substitution stellt die Dinge vor Augen und eröffnet gleichzeitig das Feld der referentiellen Verirrung. Sie leistet aber auch, als Gelenkstelle, eben jene notwendige Verbindung von sinnlicher Anschauung und intelligiblem Substrat, ohne die Sprache, Kommunikation, aber auch Kunst nicht funktionieren würden. "Ut pictura poesis”, so schreibt Horaz in der ars poetica, die Dichtung sei wie die Malerei. Und in der Tat stellen beide Kunstformen Substitutionsverhältnisse dar, referieren auf etwas Absentes und operieren mit Formen der Medialisierung. Und indem beide diese Verfahren bloßlegen und anschaulich machen, werden sie zu Figuren der Autoreflexion.

Der Narziß-(Echo-)Mythos, der mit Freuds Psychoanalyse zu einem der wirkungsmächtigsten Deutungsmuster menschlicher Aporien avancierte, spielt in der textuellen Überlieferung Ovids zunächst einmal mit den Möglichkeiten der arbiträren Semiose und zeigt dabei recht deutlich, welch tragische Konsequenzen aus der Kontingenz der Zeichenrelation erwachsen. Das Orakel sagt Narziß ein langes Leben voraus, falls er sich selbst nicht erkennt - die Reflexion im (Spiegel-)Bild, so wissen wir, bedeutet den sicheren Tod des Subjekts. Die Reflexion nun treibt Narziß in ein unauflösliches Paradox, denn seine (Selbst-)Liebe stellt sich als Relation des Signifikats "Anderer” und des Signifikanten "Bild” dar, die überlagert wird von der Relation des Signifikats "Narziß” und des Signifikanten "(Spiegel-)Bild”. Die Bedeutung generiert sich nur noch in der internen Verschiebung der Signifikanten vom Abbild zum Spiegelbild. Narziß ist der Andere. Er stirbt, oder besser, vollzieht eine Metamorphose, eine rhetorische Substitution, indem er zur Blume wird. Diese Blume jedoch ist nichts anderes als eine Metapher für den ornatus, den rhetorischen Schmuck, und somit eine Metapher der semiotischen Selbstreflexion. Echos Metamorphose ist noch radikaler, ihr Körper verschwindet völlig, zurück bleibt nur eine Stimme, die alles sinnlos wiederholt und so die Aufmerksamkeit vom Gesagten - dem Signifikat - auf den Modus und das Material der Aussage - den Signifikanten - lenkt. Indem Narziß und Echo Metaphern der textuellen Produktion darstellen und diese gleichzeitig deutlich selbstreflexiv vor Augen stellen, verleihen sie dem gleichsam körperlosen Text eine sinnliche Stimme; eine Figur, die man in der Rhetorik Prosopopoiia nennt. Im Manierismus, der, wie die silberne Latinität Ovids, in der Literaturgeschichtsschreibung lange als Epoche der Degeneration abgetan wurde, verschärft sich diese Zeichenproblematik nochmals zugunsten einer forcierten (Selbst-)Reflexion. Mit der Galeria hat der italienische Barockdichter Ganbattista Marino eine voluminöse Lyrikanthologie vorgelegt, deren erste Abteilung, die favole, sich unter anderem in einem Zyklus von fünf Gedichten mit Gemälden auseinandersetzt, deren Sujet den Narziß-Mythos darstellt. Diese fünf Gedichte kreisen alle um die Frage, was passiert, wenn dem Ovidschen Ausdifferenzierungsprozeß eine weitere Reflexionsstufe hinzugefügt wird: vom Ab-Bild zum Spiegel-Bild zum (gemalten) Bild zum Gedicht. Der Körper verschwindet in seiner Rekonstruktion als rhetorische Figur und generiert so dasjenige, was das Bild nicht zeigen kann, Echos Stimme: "Ben sentiresti ancor le voci istesse, se dipinger le voci si potesse.” Echos Schweigen im Bilde kündigt den Tod des Subjekts wie des metaphysischen Sinnes an, in seiner "Geschwätzigkeit” jedoch vollzieht das Gedicht die Wiedergeburt der Kunst im Zeichen manieristischer - man wäre auch versucht zu sagen: romantischer oder sogar postmoderner - Ironie. Was Kunst uns vor Augen stellt ist Kunst: ut pictura autopoiesis. Aber vergessen wir nicht: indem sie uns ansieht, zeigt sie uns auch, daß wir seit dem Sündenfall ebenso jener Spaltung verfallen sind.

Der Spiegel der Philosophie ist nicht blind geworden, im Gegenteil. Kant und Schiller haben den Sündenfall, der das Feld der Reflexion eröffnet, sogar ausdrücklich als Glücksfall begriffen. Freilich gilt es der Philosophie, diese in geordnete Bahnen zu lenken. Im § 59 der Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant das Schöne als Symbol des Sittlichguten, das heißt der Ideen der Vernunft. Damit hat er sich jedoch bereits von seiner eigenen Definition des Schönen als freier Natur-Schönheit entfernt, deren Erkenntis von keinem, also auch keinem moralischen Interesse, begleitet sein darf. "Das, was schön ist”, so schreibt Derrida in seiner Kant-Lektüre Parergon (in: Die Wahrheit in der Malerei), der wir uns nun zuwenden wollen, das, "was schön ist, das ist die Dissemination, der reine Einschnitt ohne Negativität, ein ohne ohne Negativität und Bedeutung.” (WM 118) Schön ist zum Beispiel die Blume, genauer die Tulpe, so sagt Kant. Das Schöne verstreut, disseminiert Sinn, wie die Blume ihre Samen. Das Schöne jedoch schneidet auch ein, wie Derrida betont, so wie es vom Sinn als Begriff oder Zweck völlig abgeschnitten sein muß. Schön ist die Blume nur, solang ihr kein Begriff zugeschrieben wird und sie keinen Zweck erfüllt. Das Schöne markiert die Grenze von Subjekt und Objekt, Innen und Außen und wird so zum "Diskurs über den Rahmen” (WM 65). Das Schöne schneidet das Innen vom Außen, das Subjekt vom Objekt ab und etabliert sich so an der Grenze; es bildet, so könnte man sagen, den Rahmen des Subjekts. In der Analytik des Schönen herrscht ein "absolute[r] Mangel” (WM 107). Trotz der scheinbaren Zweckmäßigkeit der freien Naturschönheit läßt sich kein Zweck und kein Telos ausmachen. Was die Ästhetik von der reinen Vernunft abschneidet, ist eben jenes ohne der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, der Zustand des Ohne-Begriff-Seins. Das Ohne des Begriffs oder der Bedeutung ist so fundamental, daß hier nicht einmal von einem negativen Sinn oder einer absoluten Sinnlosigkeit gesprochen werden kann: Eine Bedeutung des Schönen existiert nicht. Im Geschmacksurteil bezieht sich die Einbildungskraft auf den Verstand, ohne ihn zu benutzen, das heißt, "daß der ganze Rahmen der Analytik des Schönen in Beziehung auf das, wodurch es den Inhalt und die innere Struktur zu bestimmen gilt, als ein Parergon fungiert” (WM 93). Was das Parergon (Anhang, Beiwerk) kennzeichnet, ist der wesentliche Mangel, das Ohne. So wie die reine Vernunft der Analytik des Schönen gewissermaßen äußerlich bleibt und das Schöne das Fehlen des Begriffes, das Ohne, symbolisiert, so verhält sich das Parergon auch strukturell zum Werk. Der Rahmen fungiert als Supplement in Bezug auf einen Mangel und stellt ihn so vor Augen, macht ihn sichtbar. Das Schöne wird damit überhaupt erst durch die Form und den Rahmen wahrnehmbar, ebenso wie die Analytik des Schönen erst in Bezug auf die Kategorien- oder Gesetzestafel funktioniert. Zieht man also vom Schönen alles ab, was auf irgendeinen bestimmbaren Zweck ausgerichtet sein könnte, dann bleibt nichts übrig als der Rahmen, das heißt das Parergon (vgl. WM 120). Das Ohne ist nicht wahrnehmbar, es existiert überhaupt nicht, und doch ist "die Spur des ohne […] der Ursprung der Schönheit” (WM 113):

Das Parergon schreibt etwas ein, das äußerlich zum eigentlichen Feld [der reinen Vernunft…] hinzu kommt, aber dessen transzendente Äußerlichkeit die Grenze selbst nur in dem Maße umspielt, säumt, streift, reibt, bedrängt und ins Innere eindringt, wie das Innere fehlt. Es fehlt an etwas und fehlt sich selbst. Da die Vernunft ‘sich ihres Unvermögens bewußt ist, ihr moralisches Bedürfnis zu befriedigen’, rekurriert sie auf das Parergon, auf die Gnade, auf das Geheimnis, auf das Wunder. (WM 76)

In den Paragraphen 16 und 17 der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant die freie von der bloß anhängenden Schönheit; zur ersteren zählen die Blumen, zur zweiteren der Mensch. Die Schönheit des Menschen ist nie zweckfrei zu denken, da bei ihm das Schöne immer mit der Idee des Guten, also der Vernunft, verbunden ist. Das Schöne kann daher nur insofern Symbol des Sittlichguten sein, als der Mensch, wie Kant ausführt, über das Verfahren der Hypotypose (ein anderes Wort für evidentia oder Vor-Augen-Stellen) und der Analogie der anhängenden Schönheit einen Zweck unterschiebt - Kant nennt dieses Verfahren Subreption - und sich so selbst ein Ideal gibt. Subreption jedoch ist nichts anderes als ein metaphorisches Verfahren der Substitution: das Schöne stellt uns die eigene Selbstüberredung zum integralen Subjekt, die sich an ihm vollzieht, vor Augen. Doch ist die ästhetische Fiktion des Subjekts Basis des Schönen: Das Ohne der freien Schönheit wird unterbrochen, mehr noch, ausgehend vom Ideal der Schönheit ist das Ohne der freien Schönheit überhaupt erst zu denken.

Goethe, bekanntlich ein großer Verfechter der Symbolästhetik, stellt uns Myrons Kuh, obgleich er sie nie gesehen hat (da sie verschollen ist), vor Augen als Beispiel für vollendete Symbolik. Es ist "das Gleichgewicht im Ungleichen, de[r] Gegensatz des Ähnlichen, die Harmonie des Unähnlichen”, die das Symbol herstellt, indem sie das Heterogene, das Sinnliche und Intelligible, in eine höhere Ordnung des Kunstwerks als Einheit der Differenz überführt: "Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.” (Maximen und Reflexionen, Nr. 749) So ist das Symbol letztlich ein Kipp-Tropus, welcher durch das sinnliche Kunstwerk einen ästhetischen Affekt erzeugt, der bei näherer Betrachtung auch nur Effekt rhetorischer Substitutionsprozesse ist. Das Unausssprechliche ist die Differenz selbst - oder die différance -, denn Myron hat genaugenommen zwei Kühe geformt, Mutter und Kalb, die um eine Leerstelle kreisen. Betrachten wir unter diesem Aspekt eines der schönsten Gedichte Goethes, Gingo Biloba aus dem Westöstlichen Divan (Buch Suleika) einmal näher:

Dieses Baums Blatt, der von Osten | Meinem Garten anvertraut, | Gibt geheimen Sinn zu kosten, | Wie’s den Wissenden erbaut. || Ist es ein lebendig Wesen, | Das sich in sich selbst getrennt? | Sind es zwei, die sich erlesen, | Daß man sie als eines kennt? || Solche Frage zu erwidern, | Fand ich wohl den rechten Sinn; | Fühlst du nicht an meinen Liedern, | Daß ich eins und doppelt bin?

Im symbolästhetischen Sinn kann man das Ginko-Blatt aus dem Orient sehr wohl als Symbol für die conditio humana lesen, die das Gedicht vor Augen stellt: der Mensch als ursprünglich gespaltener, der in der Liebe zu einer Einheit findet, und zwar vermittelst des ästhetischen Affekts bzw. Gefühls (der Lust). Das Blatt kann jedoch genauso als Metapher für die Poesie des orientalischen Dichters Hafis verstanden werden, mit der sich Goethe im Divan auseinandersetzt und die er mit seiner eigenen okzidentalen Dichtung zu einem Lied verschmolz. Im dichterischen intertextuellen Dialog, in dem der eine den anderen sich erliest, entsteht der hermetische Sinn des poetologischen Symbols, dessen Einheit immer die klaffende Differenz eingeschrieben bleibt. Das Ginko-Blatt als Symbol veranschaulicht die Leerstelle der poetischen Schrift ebenso wie das geteilte Zentrum des Subjekts. Newtons naturwissenschaftlich-rationalistische Beschreibung der prismatischen Lichtbrechung - der Dissemination des Lichtes der Aufklärung - empfand Goethe als Zumutung, denn nur die ästhetische Reflexion könne die fragmentarisierte Erkenntnis der Welt in einem Symbol des Guten, Wahren und Schönen vor Augen stellen, so liest man jedenfalls in Wiederholte Spiegelungen:

Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben emporsteigern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, und man wird ein Symbol gewinnen dessen, was […] sich mehrmals wiederholt hat und noch täglich wiederholt.

Ein Symbol der ewigen Wiederkehr des Gleichen, möchte man mit Nietzsche hinzufügen.

Einen großen Bewunderer und zugleich Widerpart hatte Goethe in Kleist, den er, aus seiner Sicht verständlicherweise, wenig zuvorkommend behandelte. Demonstrieren doch Kleists Texte auf radikale Weise die Zerbrechlichkeit der ästhetischen Konstruktion. Der Inbegriff von Anmut und Naivität, der schönen Seele also, das Käthchen von Heilbronn, erweist sich in ihrem alter ego Kunigunde als sentimentalische Rekonstruktion. Ein, wie Penthesilea sagt, "Wort für Wort” zusammengebastelter (und im Liebeswahn defigurierter) Körper, der bis zum Schluß wesentlich interessanter für Graf Wetter vom Strahl bleibt, als derjenige des naiven, somnambulen Käthchen. Die "Giftmischerin” Kunigunde versinnbildlicht die dämonische Verführung der ästhetischen Synthese, die bei Kleist zumeist, auch im realen Leben, einen lethalen Ausgang hatte. Denn der Augenblick der ästhetischen Erkenntnis zerstört eben jene Einheit, die er erzeugen soll; der Jüngling der "Dornauszieher-Episode” aus dem Marionettentheater scheitert genau daran. Der tote Blick der Statue oder der Puppe verändert mich, die Erkenntnis der seit dem Sündenfall zerbrochenen Einheit treibt mich in den Wahnsinn; Kunst als Droge oder Pharmakon zeigt ihre Nachtseite. Die Doppelgänger des sentimentalischen Dichters, schizophren gespalten in Coppelius / Coppola und immer weiter ausdifferenziert in Coppelius / Spallanzani treiben den naiv dichtenden Nathanael in E.T.A. Hoffmans Sandmann erst in den Wahnsinn und dann in den Suizid, indem sie ihm die Augen rauben, ihm durch künstliche Augen eine verkehrte Welt zeigen und ihn schließlich sich in die toten Augen der Puppe Olimpia verlieben lassen. Aber auch Kants Gegenstück der Analytik des Schönen, die Analytik des Erhabenen, erfährt bei Kleist eine eigenartige Wendung. Im zusammen mit Brentano verfaßten, von Kleist dann aber unautorisiert maßgeblich veränderten Text Empfindung vor Friedrichs Seelandschaft übt das erhabene Bild des Mönches vor dem Meer eine radikal körperliche Anziehung aus. Der Betrachter verschwindet im Bild, vereint sich mit ihm: "das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat; und so ward ich selbst der Kapuziner.” Das in narzißtischer Symbiose gefangene ästhetische Subjekt blickt jedoch unverwandt in jene Leerstelle, jenes Nichts, an dessen Stelle doch eigentlich der unendliche Ozean wogen sollte. Die Subreption des Erhabenen, diese Bewegung von der defizitären Anschauung zur Idee der Unendlichkeit, die Bewegung vom Außen zum Innen, bricht zusammen. Angesichts des Nichts, das das Bild "zeigt”, verlieren wir nicht nur unsere vernunftgemäße Bestimmung, sondern auch unsere körperliche Integrität: es ist "als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.” Von Kleists Destruktion der ästhetischen Wahrnehmung zu Batailles Histoire de l’oeil ist es nur mehr ein Augenblick.

Die Ästhetik ist ein Marionettentheater, "[n]ichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern”, wußte schon Lenz in Leonce und Lena. Reißt man alle Masken ab, zeigt sich der nackte Mensch als "schlechtes Wortspiel”. Die Kunst, so meint Celan in seiner berühmten Meridian-Rede daran anschließend, die "Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenthaftes, jambisch-fünffüßiges […] kinderloses Wesen.” Nach dem Durchgang durch die Reflexion findet sich in der Dichtung, so Celan, doch wieder ein Verbindendes, eine Orientierung:

Ich finde das Verbindene und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. Ich finde etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei - heitererweise - sogar die Tropen Durchkreuzendes -: ich finde…einen Meridian.

Das Kunstwerk sieht mich an, und ich finde mich selbst. Nein, halt, ich finde mein Spiegelbild, meinen Doppelgänger, oder doch nicht? Nach der Reise um die Welt, nach der Überquerung des Meridians, findet der Erzähler aus Tabucchis Notturno indiano die Figur seines Romans, seines eigenen Lebensromans, seinen Doppelgänger? Ja wen denn nun? Wir wissen es nicht und werden es auch nie erfahren. Was wir aber wissen, steht es doch schwarz auf weiß in Kafkas Process-Roman, ist die Archefunktion der Schrift: "Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.” Pikanterweise findet sich diese Stelle im Kontext der Türhüter-Novelle (die auch unter dem Titel Vor dem Gesetz veröffentlicht wurde). Ist doch der Process nichts anderes als die verzweifelte Dekonstruktion der hermeneutischen Suche nach der Wahrheit. Kafkas gesamtes Werk ist ein Prozeß, im doppelten Wortsinne. Einerseits stellt es einen der letzten Versuche dar, Individualität oder, wie Kafka es nannte, "Eigentümlichkeit” durch den poetischen Schaffensprozeß herzustellen und fühlbar zu machen. Andererseits befinden sich seine Protagonisten in einem permanenten, verschleppten Prozeß: sie werden ver-hört und manchmal auch verurteilt und hingerichtet. Sehr plastisch stellt den tödlichen Charakter und die Funktion der Schrift als Anklage-Schrift die Erzählung In der Strafkolonie vor Augen. Der Kommandant einer Strafkolonie macht kurzen Prozeß mit den Delinquenten, schließlich ist "[d]ie Schuld […] immer zweifellos.” Ohne Anklage und Prozeß werden sie von ihm verurteilt, auf den Schreib-Tisch gelegt, in die Schreib-Maschine gespannt, denn das Urteil wird nicht gesprochen, sondern geschrieben - auf den Körper des Verurteilten. Die Urteils-Schrift ist eine Schablone, derart mit Arabesken verziert - die Arabeske hier wieder als Metapher für den rhetorischen ornatus -, daß sie so nicht mehr zu entziffern ist. Erst durch die Verschriftlichung der Schrift (als Verschriftlichung der Stimme des Herrn) wird dem Verurteilten sein Urteil vor Augen gestellt und in den Körper geschrieben, sie wird unmittelbar evident. Der lesende, er-lesene Körper bringt Erleuchtung und Erlösung:

Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein.

Der Reisende, Sinnbild des aufgeklärten Europäers, dem diese Prozedur erzählt wird, ist entsetzt, zumal ihn der Kommandant mit großem rhetorischen Pathos zu überreden sucht, ihn hinsichtlich dieses Straf-Processes zu unterstützen. Er stellt ihm allerlei Vorzüge der Maschine vor Augen, allein es nützt nichts, der Reisende hat sein Urteil längst gefällt und lehnt - ohne jede Begründung - ab. Was dann geschieht, veranschaulicht auf luzide Weise das Problem von Beobachtung und Schrift. Der Kommandant legt sich selbst unter seine Schreib-Maschine, um sein Urteil: "Sei gerecht!” zu empfangen. Dieser Akt der Wiedereinführung der Leitunterscheidung, ein re-entry, wie Luhmann sagt, zerstört jedoch das gesamte Kommunikationssystem: die Schreib-Maschine zerbricht, der Körper wird sofort vernichtet.

Die Schrift ist alles, was uns bleibt, sie bedeutet den Tod und zeigt uns doch, wer wir sind - vielleicht. "Ceci n’est pas une pipe”, schreibt Magritte unter sein Bild einer Pfeife. "Nirgendwo ist da eine Pfeife” (S. 21) sekundiert der französische Philosoph Michel Foucault in seinem gleichnamigen, kongenialen Essay und zeigt die zerbrechliche Relation von Schrift und Bild, Schrift als Bild, als Schrift-Bild. Das Bild zeigt uns eine Pfeife, stellt sie uns vor Augen, während die Schrift, selbst nur gemalt, dies sogleich wiederruft. Wem dürfen wir glauben und was ist mit der Pfeife geschehen? In dem Versuch, sie uns vor Augen zu stellen, hat sie sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. Ganz anders der Körper von Valdemar aus Poes Erzählung The Facts in the Case of M. Valdemar, der tot ist und nicht sterben kann, eine Prosopopoiia der Schrift. Das Unheimliche der Kunst tritt hier offen zu Tage, springt uns in die Augen. Auf ewig dezentriert, werden wir "nimmermehr” den Ursprung, die Einheit finden. Das Unheimliche der Kunst, so stellt Roland Barthes im Semiologischen Abenteuer fest, besteht darin, daß sie zu uns spricht:

Es gibt einen klaffenden Widerspruch zwischen Tod und Sprache; das Gegenteil des Lebens ist nicht der Tod (das ist ein Stereotyp), sondern die Sprache: Es ist unentscheidbar, ob Valdemar lebendig ist oder tot; feststeht, daß er spricht, ohne daß man sein Sprechen auf den Tod oder das Leben beziehen kann. […] Das Schreiben ist genau jener Verlust des Ursprungs, jener Verlust der ‘Motive’ zugunsten eines Volumens von Indeterminationen oder Überdeterminationen: Dieses Volumen ist die Signifikanz. Das Schreiben tritt genau dort auf, wo das Sprechen verstummt, das heißt von dem Augenblick an, wo man nicht ermitteln kann, wer spricht, und nur mehr feststellt, daß es zu sprechen beginnt. (S. 288 bzw. S. 297)

Es sieht mich an, es beginnt zu sprechen, es negiert sich und mich, be-schreibt mich, tötet mich, ich erwache, komme zu mir und erkenne: "C’est faux de dire: Je pense: on devrait dire: on me pense. - Pardon du jeu de mots. Je est un autre.”

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