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Ausstellungsansicht
Franz Schneider
Die Arbeiten von Doris M. Würgert formulieren ein Dazwischen, welches sich bereits in der Tatsache widerspiegelt, dass sie sich, obwohl fotografische bzw. filmische Werke, in einer Ausstellungsserie befinden, die sich „paintings“ nennt. In einem komplizierten Verfahren, dem sogenannten Gummidruck auf Leinwand gebannt, öffnen sie einen Zwischenraum, den sie zugleich virtuos bespielen.
Die Leinwände zeigen eine Reihe von Porträts, die wie eine repräsentative Ahnenreihe anmuten, doch wo eine solche üblicherweise eine genealogische Dauer behaupten, in der das Perfekt des Vergangenen umso mehr auf die Präsenz der Gegenwart verweist, bleibt die Gegenwärtigkeit von Doris M. Würgerts Porträts eigenartig diffus. Auch wenn es sich um reale Porträts handelt, sind hier weder deren Identifizierbarkeit noch ihre genealogische Einordnung von Belang. Gerade dadurch aber öffnen sie andere Sicht- und Seinsweisen, die sich in den unabgeschlossenen Zwischenräumen und -zuständen dieser „Ahnenreihe“ ausmachen lassen.
Tatsächlich ist die Gegenwart dieser Porträts eigentümlich gedehnt – sie könnten sich ebenso gerade zu einer manifesten Erscheinung materialisieren, wie sie in eine uns noch unbekannte Zukünftigkeit entschwinden mögen. Doch entbehrt selbst diese angenommene Zeitachse jeder Verbindlichkeit: Auch ein Entschwinden in eine unwiederbringliche Vergangenheit ist diesem malerischen Aggregatszustand eingeschrieben. Nichts ist verlässlich, greifbar, unsere manifesten rationalen Vorstellungen und Erkenntnisweisen führen uns nicht weiter.
„Dass morgen die Sonne aufgehen wird, ist eine Hypothese; und das heißt: wir wissen nicht, ob sie aufgehen wird“, sagt Wittgenstein in seinem Tractatus (Satz 6.36311). Es ist also sowohl möglich, dass sie aufgehen wird, als auch, dass sie nicht aufgeht. Wenn aber, und dies belegen die Erkenntnisse etwa der Quantenphysik, der Glaube an ewig unveränderliche Naturgesetze eine brüchige Sicherheit bereit hält, so öffnet dies auch zugleich die Freiheit, unser Repertoire an Erkenntnismethoden zu erweitern und Praktiken aufzugreifen, die weit vor unserem aufklärerischen Denken – und auch darüber hinaus - ihre Brauchbarkeit bewiesen haben.
„ahnen“ betitelt Doris M. Würgert ihre Ausstellung und formuliert damit auch die Weise des natürlichen Erkennens, welches diesen Arbeiten angemessen erscheint.
„Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit, eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten – wir ahnen ihre Wahrheit, noch ehe wir mit bestimmter Gewissheit erkennen.“ Dieser Satz von Immanuel Kant macht Ahnung als Form des Erkennens auch in aufgeklärten Zeiten unverdächtig, ja in unserem Fall sogar besonders brauchbar. Denn kein Wissen reicht aus, um unsere Ahnungen überflüssig zu machen. Der Unterschied ist, dass Wissen erworben werden muss, eine Handlung voraussetzt, während Ahnungen weder Handlungen noch Ergebnisse von Handlungen sind – Ahnungen machen wir nicht, sie stellen sich ein.
Ausführliche Erläuterungen zu Technik und Konzept dieser Bilder allein werden uns deshalb nur auf ihren Oberflächen zurücklassen. „Der gesamte Corpus unserer Überzeugungen, Meinungen und unseres Wissens“, sagt der Philosoph Wolfgang Hogrebe, „muss stets von unserer Ahnungsnatur umgriffen bleiben, wenn wir für Neues in grundsätzlicher Weise empfänglich bleiben wollen.“
Vertrauen wir unseren Ahnungen, so erkennen wir in diesen Bildern ein ganz besonderes Konzept von Zeit und Erinnerung, das sich nicht in gerichteter Linearität erschöpft, sondern Verdichtungen und Dehnungen, Parallelitäten und sogar Umkehrungen glaubhaft imaginiert. In manchem ähneln diese „Ahnen“ den römischen Manen: Wie diese verbleiben sie gegenwärtig, so fern sie uns auch sein mögen; in der Wandfläche, mit der sie beinahe verschmelzen, sind sie uns nahe, ohne aber wirklich greifbar zu sein.
Dies erzeugt eine Stimmung, die stets changiert zwischen heimlicher Vertrautheit und beunruhigender Heimlichkeit. Besonders in der filmischen Arbeit „ahnend_2“ ist diese Ambivalenz nahezu verstörend greifbar. Wie in einem Videospiel durchstreift der Betrachter ein verlassenes Gebäude, dessen Räume lediglich einige zurückgebliebene Möbelstücke – Stuhl, Bett, Schreibtisch – enthalten. Die Ungewissheit, was sich hinter der nächsten Abbiegung, der nächsten Zimmertür verbirgt, schafft eine Atmosphäre der Unheimlichkeit; die Möbelstücke, die von ausgesuchter handwerklicher Sorgfalt und täglichem Gebrauch künden, erzeugen ein Gefühl heimlicher Nähe; sie werfen umso schmerzlicher die Frage auf, wohin dieses gelebte Leben verschwunden ist, welches sich in seinen Spuren hier, wenn auch flüchtig und vergänglich, manifestiert.
Am Ende des Films erscheint eine krakelige schriftähnliche Lineatur, eine nicht dechiffrierbare Botschaft, die an einen späteren Empfänger gerichtet ist. Im Widerspruch dazu ist eine menschliche Äußerung, ein Flüstern zu hören, welches aber offensichtlich durch eine konträr laufende Tonspur rückwärts, also in die Vergangenheit gerichtet ist.
Diese erneute Infragestellung von linearer Zeit und Erinnerung ist zugleich gekoppelt mit einer weiteren, ungeheuren In-Eins-Setzung von Nähe und Ferne: Während die Kamerafahrt durch das von Erinnerungsstücken vollgestellten Haus auf die intimste Nähe, auf das menschliche Ich verweist, kündet die erscheinende unlesbare Wandschrift mit ihrem verstörenden Flüstern auf eine uns fast schon ungreifbare Ferne, der wir uns durch kein rationales Wissen nähern können, deren Nähe wir nur erfahren und ahnen können: „im echten Sinne eines unendlichen Verlangens von letzter Ferne zu letzter Ferne.“ (Albert Görland).
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