Katalogtext von Susanne Gaensheimer, in: dazwischen, 1999

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  Susanne Gaensheimer

Über das Wirkliche im Unwirklichen in den Bildern von Doris Maximiliane Würgert

Die Bilder von Doris M. Würgert lassen sich medial nicht mit den herkömmlichen Kategorien definieren. Sie sind Malerei und ebenso Fotografie, sie entstehen im Computer und zugleich auf der Leinwand. Das, was Würgert mittels der Fotografie von der Wirklichkeit aufnimmt Ð meist Personen oder Räume Ð wird im Computer gespeichert, verändert und auf seine essentiellen Grundformen reduziert, schließlich auf Fotopapier oder Leinwand belichtet und meist mit einer klassischen Lasurtechnik übermalt. Was zu sehen übrigbleibt, ist schließlich nur noch ein kleiner Teil dessen, was die Fotografie von der Wirklichkeit aufgenommen hat. Es sind Spuren von Situationen oder Menschen, durchlässige Erscheinungen von Gegebenheiten, die die Differenz zwischen Objekt und Raum Ð zwischen dem was ist und dem was scheinbar nicht ist Ð verschwimmen lassen.

In der kognitiven Psychologie werden mentale Prozesse als »symbolisch« bezeichnet, da sie Informationen über Ereignisse oder Dinge, die weder physisch präsent sind noch jemals direkt erlebt wurden, manipulieren und transformieren können. Der menschliche Verstand ist fähig, abwesende, entfernte oder unmögliche Dinge und Zusammenhänge vorzustellen, d.h. symbolisch zu repräsentieren. Voraussetzung und Quelle dieses symbolischen Prozesses ist die "symbolische Erinnerung". Diese besteht aus den im menschlichen Gedächtnis gesammelten Informationen, die auf einer rein mentalen Ebene, d.h. unabhängig von ihrer Präsenz oder Motivation in der äußeren Welt, aktiviert und manipuliert werden können. Diese gesammelten Informationen wiederum werden als »mentale Repräsentationen« bezeichnet, da sie innerhalb des mentalen System Objekte und Ereignisse repräsentieren, die sich außerhalb dieses Systems befinden. -

Die menschliche Wahrnehmung, etwa das Sehen eines Bildes, basiert auf dem "symbolischen" Wissen, das sich ein Mensch im Laufe seines Lebens angeeignet und im unendlichen Archiv seines Gedächtnisses gespeichert hat. Wahrnehmung ist daher Erinnerung; Erinnerung dessen, was man bereits gesehen hat, was man wiedererkennen und auf Grund dessen, was man weiß, interpretieren kann. Das Betrachten der Bilder von Doris M. Würgert ist sehr eng mit dem Prinzip der Erinnerung verbunden. Durch die starke Reduktion der dargestellten Situationen auf elementare Formen und durch das Nichtvorhandensein narrativer Details wird dem Betrachter eine Geschichte oder ein konkreter Inhalt vorenthalten und eine eindeutige Interpretation unmöglich gemacht. Er wird dazu veranlaßt, auf sein individuelles symbolisches Wissen zurückzugreifen und den »leeren Raum« zwischen dem, was auf Würgerts Arbeiten sichtbar ist, mit den Bildern seiner eigenen Erinnerung aufzufüllen. Die Fotografien, die Würgert als Arbeitsgrundlage dienen, sind jedoch durch das Entfernen von narrativen Details nicht nur auf das Wesentliche reduziert, sondern auch von den wahrnehmungstechnischen Bedingungen der Realität befreit: Lichtquellen werden retuschiert, so daß das Spiel von Licht und Schatten nicht den physikalischen Gesetzmäßigkeiten entspricht, Gegenstände werden entnommen oder hinzugefügt, so daß eine einheitliche Perspektive eliminiert wird, der Raum wird neu konstruiert, so daß kohärente Proportionen aufgehoben werden. Auf diese Weise entstehen diffuse Situationen, die in ihrer Unwirklichkeit weniger an die logische Struktur der Wahrnehmung im Wachzustand, als vielmehr an die dissoziative Qualität des Traums erinnern.

- Die einzelnen Bilder des Traums sind auf Einheiten oder Teile der symbolischen Erinnerung zurückzuführen, die wiederum aus den mentalen Repräsentationen der Außenwelt im Gedächtnis bestehen. Diese mentalen Repräsentationen werden jedoch nicht in Form analoger oder fotografischer Reproduktionen der in der Außenwelt wahrgenommenen Dinge und Ereignisse gespeichert, sondern zu Bedeutungseinheiten abstrahiert. Obwohl der Traum eine bildhafte Erscheinungsform besitzt, beruht er nicht auf einer bildhaften Speicherung der in der Außenwelt wahrgenommenen Ereignisse. In den seltensten Fällen ist der Trauminhalt daher mit den Wahrnehmungen der Außenwelt identisch. Meist zeichnet er sich durch die Neuartigkeit, Unwirklichkeit und Fremdartigkeit seiner Bilder aus. Dies weist darauf hin, daß das menschliche Wahrnehmungssystem die Information der Außenwelt abstrahiert. Das im Außen Wahrgenommene wird nicht in eine analoge innere Reproduktion eines externen Ereignisses umgeformt, sondern die Bedeutung der wahrgenommenen Ereignisse wird von ihrer äußeren Form losgelöst und in kodierter Form gespeichert. Ð

Roland Barthes hat die Fotografie als Index der Wirklichkeit bezeichnet. Die Manifestation des Lichts auf der lichtempfindlichen Oberfläche des Fotopapiers entspricht für ihn der Peirceschen Definition des Index, der im Unterschied zum Ikon und Symbol in einer realen physischen Beziehung zum Objekt steht. Dieser Wirklichkeitsanspruch der Fotografie ist in den Bildern von Doris M. Würgert aufgehoben. Die Manipulation fotografischer Bilder, die schon seit geraumer Zeit mit den Mitteln digitaler Bearbeitung möglich ist und insbesondere im Bereich des Grafikdesign praktiziert wird, ist Grundlage ihrer Arbeit. Doch die Veränderung der Bilder dient bei ihr nicht dem Hinzufügen neuer, anderer Informationen, sondern der Eliminierung des Konkreten. Der Informationsgehalt ihrer Fotografien wird abstrahiert und zu wiedererkennbaren, allgemeingültigen Formeln reduziert. Dort, wo vorher konkrete Informationen zu lesen waren, entsteht nun ein freier Raum. Ein Raum, der sich um das Sichtbare herum entfaltet, es durchdringt und durchlässig macht. Ein scheinbar unwirkliches Nichts, das dem Betrachter ermöglicht, im Rückgriff auf sein persönliches Wissen seine eigene, subjektive Wirklichkeit zu erfahren. Doch ist das, was als "Wirklichkeit" empfunden und bezeichnet wird, nicht ohnehin immer subjektiv?


Susanne Gaensheimer

On the Real in the Unreal in the Pictures by Doris Maximiliane Würgert

The pictures by Doris M. Würgert cannot be defined by conventional media categories. They are paintings as well as photographs, they are produced in the computer and at the same time on the canvas. That part of reality which Würgert records by means of photography Ð mostly persons and rooms Ð is stored in the computer, manipulated and reduced to its essential forms, finally transferred by means of exposure to photographic paper or canvas and in most cases painted over using a classical glazing technique. What remains visible in the end is just a small part of that reality which the photograph recorded Ð marks of situations or persons, permeable appearances of facts which blur the difference between object and space – between that which is and that which seemingly is not.

- In cognitive psychology mental processes are called "symbolic", since they can manipulate and transform information about events or things which are neither physically present nor were ever experienced directly. The human mind is capable of imagining, i.e. of symbolically representing things and connections which are absent, distant or impossible. The prerequisite and source of these symbolic processes is the "symbolic recollection". This consists of the information collected in the human memory which can be activated and manipulated on a purely mental level, i.e. independent of its presence or motivation in the outer world. This collected information in turn is called "mental representations", since it represents objects and events inside the mental system which are outside this system. -

Human perception, such as seeing a picture, is based on the "symbolic" knowledge which persons have acquired during their lives and saved in the infinite archives of their memory. Hence perception is recollection, recollection of what one has already seen, what one recognizes and what one, due to what one knows, can interpret. Looking at the pictures by Doris M. Würgert is closely connected to the principle of recollection. Due to the considerable reduction of the represented situations into elementary forms and because of the absence of narrative details, any story or concrete content is withheld and an unequivocal interpretation is impossible. Viewers are forced to fall back on their symbolic knowledge and to fill the ”empty spaces” between that which is visible in Würgert’s works with pictures from their own memory. Yet by eliminating the narrative details from the photographs which she uses as the basis of her work, Würgert not only reduces the photographs to essentials but also frees them from the physical laws of appearance and perception: light sources are retouched so that the play of light and shadow is not in accordance with the laws of physics; objects are removed or added in such a way that a uniform perspective is eliminated; space is reconstructed so that coherent proportions are invalidated. This results in diffuse situations whose unreal character does not correspond to the logical structure of perception in the waking state, but rather the dissociative quality of dreams.

- Single dream images can be traced back to units or parts of the symbolic recollection which in turn consist of the mental representations of the outside world in one's memory. Yet these mental representations are not recorded in the form of analogous or photographic reproductions of the things and events perceived in the outside world, but they are abstracted into units of meaning. Though dreams appear in the form of pictures, they are not based on a pictorial recording of the events experienced in the outside world. Consequently the content of a dream is hardly ever identical with one's perceptions of the outside world. In most cases it is characterized by the newness, unreality and strangeness of its pictures. This indicates that the human system of perception abstracts the information from the outside world. That which is perceived in the outside world is not transformed into an analogous interior reproduction of an exterior event, but the meaning of the perceived event is detached from its outer structure and recorded in a codified form. -

Roland Barthes called photography the index of reality. For him the manifestation of light on the photosensitive surface of photographic paper corresponds to Peirce’s definition of index which in contrast to icon and symbol has a real physical relationship to the object. In Doris M. Würgert's pictures photography's claim to reality is nullified. The manipulation of photographic pictures –– which has been possible for quite some time through the means of digital processing and is, for example, a basic tool in the field of graphic design –– is the basis of Würgert’s work. Yet the alteration of the photographs does not result in the addition of new and different information, but in the elimination of the concrete. The informative content of her photographs is abstracted and reduced to recognizable, universally valid forms. While the photographs provided concrete information before being processed, they now show empty spaces, spaces which develop around the visible, penetrating it and making it permeable – a seemingly unreal nothing which enables the viewers to experience their own, subjective reality by falling back on their own personal knowledge. Yet is that which is felt to be and called "reality" not always subjective anyway?

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