Text von Alexander Alluskewitz in: Was ist der Mensch?

Pressetext
       
 

Alexander Alluskewitz

"Zellen schieben abgestorbene Gewebe aus der Haut. Jetzt. Vergiß, daß du ein Mensch." (Paulus Böhmer)

Bei der ersten Begegnung mit der Arbeit Claire von Doris Maximiliane Würgert leuchtet das Bild kurz auf. Die Augen sind für einen Moment irritiert. Ähnlich dem, wie aus einem gewöhnlichen Schauen im Aufblitzen von etwas plötzlich ein ausdrückliches Hinsehen wird. Bei Claire entgleitet dieses anfängliche Leuchten, Aufblitzen dem Betrachter, wenn er versucht, es genauer zu ergründen. Jedoch nicht ganz, so daß diese Arbeit - und nicht nur das, was sie zeigt - zu schweben scheint.

Der Eindruck des Schwebens erstaunt bei dem großen Format dieses Bildes, das in überdimensionaler Größe das an Stirn und Kinn angeschnittene Gesicht einer jungen Frau mit großen, weit offenen Augen (deren Blick von unten nach oben gerichtet zu sein scheint) und einem schmalen, geschlossenen Mund zeigt. Scheu und fragend wirkt es, doch Genaueres ist nicht zu fassen. Kaum Konturen, nichts ist eindeutig bestimmbar. Das Ganze ist immer das Bild einer jungen Frau, doch die Einzelteile scheinen nicht wirklich zu harmonieren. Immer wieder zerfällt das Gesicht in unverständliche, schwer zu fassende Momente. Doch es gelingt auch immer wieder, es wie beim ersten Blick zu sehen: eine junge Frau, die ihren leicht skeptischen Blick auf den Betrachter richtet. Wie aus dichtem Nebel taucht es auf, oder versinkt in Ungewisses; mehr Erscheinung und Ahnung als Abbild.

Das, was man auf diesem Bild sofort als hübsche Frau zu erkennen glaubt, entstammt einem Computerspiel. Kein lebendiger Mensch ist hier festgehalten, sondern diese Züge wurden technisch erzeugt, mittels digitaler Manipulation vergrößert, auf das gerade noch Erkennbare reduziert, direkt vom Bildschirm abfotografiert und mit einem aus den Anfängen der Fotografie stammenden Verfahren, dem Gummidruck, auf Leinwand fixiert. Das Bild stammt aus einer Serie, in der das Gesicht der Hauptdarstellerin aus verschiedenen Folgen eines Computerspiels in einzelnen Bildern gezeigt wird. Man erkennt dabei deutlich einen Alterungs- und Reifungsprozeß dieses künstlich erzeugten Menschen, eine Entwicklung vom naiven Teenager hin zur erwachsenen, gereiften Frau. Nicht nur die Person, welche hier gezeigt wird, ist erfunden, sondern auch der scheinbare Verlauf ihres Lebens.

Kein Rahmen begrenzt dieses Bild. Der nach hinten abgeschrägte Holzrahmen, über den die Leinwand gespannt ist, läßt den Übergang von Bild- und Wandfläche weitgehend undefiniert, gibt keine strenge Grenze vor. Diese Freiheit in den Raum hinein scheint das Gesicht über die Beschränkung des Bildschirms und der Leinwand zu heben.

Claire ist ein Bild, das sich dem definierenden, identifizierenden Sehen in gewisser Weise entzieht. Es hält die Augen des Betrachters in ständiger Bewegung, bietet ihnen keinen Halt. Es erinnert an Filmstills der frühen Stummfilmzeit und zeigt doch sofort seine Andersartigkeit. Der Eindruck, der bleibt, ist eher diffus: verwischt ohne nachvollziehbares Wischen, aber nicht unscharf, weil Schärfe oder Kontur hier keine Rolle spielen. Denn es gibt so etwas wie Vordergrund bei gänzlicher Abwesenheit von Hintergrund. Das dunkle "Hinten", aus dem das Gesicht auftaucht, gehört zu diesem wie Augen, Nase, Mund. Das Dunkel des Bildraums unterscheidet sich eben nicht von den anderen dunklen Stellen im Gesicht: Genau wie auf einem Bildschirm hat das "Dunkle" hier keine Tiefe.

Dennoch ist diese Arbeit nicht bloße Oberfläche. Sie ist auch kein Bild, das an der Wand hängt. Weit mehr könnte man sie als "Raumarbeit" bezeichnen. Sie macht einen Raum auf, ohne zu definieren. Dieser Raum ist nicht der uns vertraute: oben Decke, unten Fußboden, daneben, davor und dahinter Wände. Diesen bekannten Raum können wir nie sehen, nur wissen. Wenn wir uns in ihm befinden, können wir ihn nie in seiner Gänze wahrnehmen, immer fehlt das, was sich hinter uns befindet. Der Raum, den die Arbeit Claire zeigt, ist aber wahrnehmbar, auch wenn er sich nicht wißbar, nicht meßbar anbietet. Er ist wie der gewöhnliche Raum, der uns durch den blinden Fleck im Rücken offen gehalten ist, - und zugleich wie der vorgestellte, gewußte Raum: abgeschlossen, unoffen, weil das, was im gewöhnlichen Raum fehlt, abgezogen (abstrahiert) und damit als nicht-fehlend gesetzt ist. Ein gewöhnlich-abstrakter Raum. Etwas, das es nicht gibt, obgleich es vor Augen steht. Eine Art poetischer Raum des Unbestimmten, in dem Vieles ein Ahnen bleiben darf und nicht zum Wissen werden muß.

Oder kann dieser Widerspruch ignoriert werden? Denn natürlich hat man es nach wie vor mit Decke, Fußboden und Wänden zu tun. Ist Doris M. Würgerts Arbeit Claire nicht eine perfekte Abstraktion von Maschinenwirklichkeit, welche die 0 und die 1 zur digitalen Steuerung menschlichen Verhaltens benützt? - So etwas wie Steuerung überträgt sich jedenfalls bei Claire auf eigentümliche Art und Weise auf den Ort, wo der Betrachter steht und auf das Bild sieht. Entscheidend ist hierbei Abstand, Entfernung und Nähe. Wo und wie wir bei Claire stehen, findet sich von ganz allein. Für das Spiel unserer Augen gibt es dabei aber nur einen Standpunkt. Denn schon im Daraufzugehen lösen sich die Arbeiten auf, und alles andere ist einfach nur Weggehen (und damit Wegsehen).

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