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Lippenbekenntnis
Unter dem Titel "animus versus ratio” veröffentlichte
Doris Maximiliane Würgert Anfang der neunziger Jahre ein Künstlerbuch.
In der Gegenüberstellung von mathematischen Gleichungen und Gesichtern
aus Velázquez "Las Meninas” setzte sie sich damals mit
dem Verhältnis von Gefühl und Verstand auseinander. In ihrer
jüngsten Videoinstallation thematisiert sie, wiederum mit dem Fokus
auf das menschliche Gesicht, die Beziehung zwischen Körper und Vernunft,
Sprechen und Sprache, Sinn und Unsinn. Zieht man den Installationskontext,
einen protestantischer Kirchenraum, in Betracht, kann "… und
wenn das nicht die Wahrheit ist …” auch als künstlerischer
Kommentar zu Kirche und Religion verstanden werden.
Die Installation besteht aus zwei nebeneinander an die Wand gebeamten
Videoprojektionen: Sprechende, aber stumme Münder. Junge und alte,
weibliche und männliche Lippenpaare artikulieren Worte, deren Bedeutung
auch nicht von der über Kopfhörer wahrnehmbaren Tonmontage Michael
Armanns enthüllt wird. Die Folge ist: Das Sprechen zeigt sich als
körperlicher Akt; das Gesprochene – das Lügengedicht "Dunkel
war's der Mond schien helle" – bleibt verborgen. Und selbst
dann, wenn das Gesagte hörbar wäre, entpuppte sich sein Sinn
als Unsinn – offensichtlich muss, was verbal verstanden wird, nicht
verständlich, sprich: vernünftig sein.
Als Installationsort wählt Würgert die Wand im Rücken der
Gemeinde, so dass sich der predigende Pfarrer gleichsam in den Doppel-Mündern
spiegelt. Darin besteht die kontextspezifische Herausforderung, mehr noch:
Der Sinn des gesprochenen Wortes verbirgt sich an einem Ort, an dem gewöhnlich
das Wort ins Zentrum gerückt wird. Der Protestantismus mit seiner
spröden Abkehr vom sinnlichen Zauber insistierte gegenüber dem
lateinischen Wortgeklingel des Katholizismus auf allgemeiner Verständlichkeit.
Logozentristisch stellt das Christentum die Sprache als Ort der Vernunft
über den Körper. Im biblischen Schöpfungsmythos –
"Und Gott sprach es werde, und es ward.” – ”erspricht”
Gott die Welt. Die Geburt Christi schildert Johannes als Inkarnation des
Wortes: "Und das Wort ward Fleisch.”
In Würgerts Mündern wird das Wort "Fleisch”, ohne
seinen Sinn preiszugeben. Die Lippenbewegungen verweisen allenfalls, sobald
sie als Sprechen identifiziert werden, auf die Bedeutungsebene der Sprache.
An ihre Stelle tritt hier der vergängliche Körper, der sprechende
Mund, der Mund, der nicht nur Artikulationsort ist, sondern auch überlebensnotwendiges
Organ der Nahrungsaufnahme, der Mund mit seinen Lippen, abstoßend
vulgär und anziehend erotisch, jung und alt, zart und faltig. Das
vergängliche Sprechen, und mit ihm die individuellen Körper
der Sprecher, dominiert über dem transindividuellen, platonisch betrachtet,
überzeitlichen Sinn des Gesprochenen. Die Sprache verschwindet hinter
dem Sprechenden. Die Bedeutung wird imaginär. Was bleibt, ist die
Würde des sprechenden Mundes im Angesicht der Zeit. |
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